Radioaktivität in Lebensmitteln - Grenzwerte still und leise abgeschafft

Der Bund hat die zulässige Strahlenbelastung der Bevölkerung nach einem Atomunfall massiv erhöht. Zugleich verschwanden still und leise die Grenzwerte für Radioaktivität in Esswaren.

Die Folge: Bei einem Atomunfall dürften das Know-how und die nötige Labor-Infrastruktur zur Messung der radioaktiv verseuchten Lebensmittel fehlen. Deshalb fordern die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) die Wiedereinführung der Grenzwerte und den Erhalt der Atomlabors.

Die Schweiz baut den Strahlenschutz ab. Atomkraftwerke müssen weniger widerstandsfähig gegen schwere Erdbeben sein: Der Bevölkerung (inklusive Kindern) wird nach einem schweren Atomunfall die hundertfache Strahlenbelastung[i] zugemutet.

Weitgehend unbemerkt hat der Bundesrat zudem die Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmittel abgeschafft.[ii] Strahlenlimiten für Esswaren sollen nur noch nach einem Atomunfall gelten. Von diesen Notfall-Grenzwerten dürfte der Bund sogar „ereignisbezogen“ abweichen, solange dies „durch die herrschenden Umstände hinreichend begründet“ würde.[iii]

Labors fehlen bei Atomunfall

Das Problem: „Ohne Grenzwerte im Alltag für Radionuklide in Lebensmitteln schwindet auch das Interesse an der Analyse von Radioaktivität. Sie könnte weggespart werden. Das Know-how und die Übung für die Messung von Radioaktivität würden dann in der Schweiz bei einem Atomunfall fehlen“, betont Markus Zehringer, Leiter der Radioaktivitäts-Analytik im Kantonalen Laboratorium Basel-Stadt gegenüber den Ärztinnen und Ärzten für Umweltschutz (AefU).

Kantone bei Tschernobyl-Katastrophe nicht parat

Fehlende Laborkapazitäten zeigten sich bereits bei der Atomkatastrophe von Tschernobyl im April 1986. Basel-Stadt war „das einzige Kantonslabor, das damals dafür gewappnet war“, erzählt Zehringer. Kein anderer Kanton war für die dringend erforderliche Radioaktivitäts-Analytik eingerichtet.

Basel-Stadt hingegen hatte damit schon 1980 nach dem Unfall im Atomkraftwerk ‹Three Miles Island› in den USA begonnen. Der damalige Kantonschemiker Martin Schüpbach sei „deswegen von seinen Kollegen noch belächelt“ worden, erinnert sich Zehringer.

„Das ist falsch“

Martin Schüpbach war von 1977 bis 1991 Kantonschemiker Basel-Stadt. Er hatte das Atomlabor initiert. Zur Abschaffung der Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln sagt Schüpbach auf Anfrage der AefU: „Das ist falsch.“ Es brauche einen Masstab, um die Überwachungsarbeit einzuordnen. Ansonsten könne „jeder sagen, diese oder jene Strahlendosis macht ja nichts“. Schüpbach bestätigt das Risiko eines Mangels an Laborkapazitäten nach einem Atomunfall: Das sei „die logische Konsequenz“.

Sache der Kantone

Wer also würde nach einem Atomunfall in der Schweiz die Lebensmittel auf radioaktive Verseuchung kontrollieren? Hätte das ‹Labor Spiez› des Bundes die Kapazitäten, alle nötigen Analysen durchzuführen? „Nein, unmöglich“, hält Zehringer fest. Dies ist denn auch nicht vorgesehen. Das ist die Aufgabe der Kantone.

Nach Tschernobyl hatten diese zwar alle – wenn auch mit erheblicher Verspätung – ebenfalls die entsprechenden Messgeräte gekauft. Aber schon 1990 fuhren sie – anders als Basel-Stadt – die Messungen wieder zurück. Das Bundesamt für Gesundheit BAG sei zwar bestrebt, mehr Messkapazitäten in den Kantonen zu bewirken. Es sei aber offen, ob diese genügen würden, sagt Zehringer. Ihm sei sehr wichtig, dass das „Krisenlabor hier in Basel“ bestehen bleibe.

Die AefU fordern:

  • Die Wiedereinführung der Alltags-Grenzwerte für Radionuklide in Lebensmittel, z.B. als Anhang der Strahlenschutzverordnung (StSV). Nur so bleibt die radioaktive Belastung von Lebensmittel als mögliches Problem präsent.
  • Den Erhalt bzw. die Schaffung von Atomlabors in der Schweiz.

Das vollständige Interview mit Dr. Markus Zehringer, Leiter der Radioaktivitätsanalytik im Kantonalen Laboratorium Basel-Stadt finden Sie in der AefU-Fachzeitschrift OEKOSKOP 4/18 (Auszug).

[i] www.blick.ch

[ii]  Revidierte Strahlenschutzverordnung (StSV); Ordonnance sur la radioprotection révisée (ORaP)

[iii] Vgl. OEKOSKOP 4/18, S. 4, Fussnote 4; cf. OEKOSKOP 4/18, p. 4, note de bas de page 4.

[iv] Art. 3, Abs. 2 Kontaminantenverordnung (VHK); Art. 3, al. 2 Ordonnance sur les contaminants, (OCont).

 

Quelle: Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU)
Titelbild: Viktorija Reuta – shutterstock.com

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